Heimat – ein strategischer GRÜNER Begriff?

 

Antragssteller*in:
Carola S. und Gerhard Z.

Beschlussdatum
29. September 2018

Wo stehen wir mit dem Heimatbegriff?

Heimat wird von den Einen eher räumlich als wohlbekannter Ort, Kulturraum, oder
als Erinnerungs- und Sehnsuchtsort definiert. Vielen ist der Heimatbegriff weder
als Ort noch als Konzept der Identität von Bedeutung und sie kritisieren ihn als
Begriff der Gegenaufklärung – , diffus, missbrauchsgefährdet und emotional
übermäßig aufgeladen.

In Umfragen verbinden allerdings 92 Prozent der Bevölkerung mit dem
Heimatbegriff Positives, 85 Prozent nehmen das „Gefühl heimatlicher
Verbundenheit“ auch persönlich wichtig[1]. Der Zugang zur Heimat ist
individuell, wird verbunden mit privaten oder gemeinschaftlichen Bezügen, mit
Geborgenheit, Orten der Erinnerung, Landschaften oder regionaler Baukultur,
Traditionen.

Die Herkunft der Heimat

Mit der Migration in die wachsenden Städte, der Industrialisierung und der
danach einsetzenden Verklärung des „zurückgelassenen“ Landlebens erhält der
Heimatbegriff seine Bedeutung. Bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts war
„Heimat“ ein juristischer Begriff für „Wohnort“. Kaiserreich und Nationalstaat
erkannten das Potenzial des Begriffes und luden ihn abgrenzend auf. Besonders
vor den Weltkriegen war es zielführend, den hohen Wert der Heimat als ideelle
Verortung für jeden Einzelnen zu illustrieren, der für die Heimat an die Front
und damit oft in den Tod geschickt wurde. Tracht, Architektur, Liedgut,
Heimatkunst wurden zur Selbstbestärkung überhöht.

Das Ende der Heimat wurde 1969 von Martin Walser mit dem Kommentar eingeläutet:
„Heimat, das ist sicher der schönste Name für Zurückgebliebenheit“ und Jacob
Augstein, erklärte, das „H-Wort“ sei aus der Sicht der Linken kontaminiert, ein
verbranntes, nicht mehr benutzbares Wort.

Die geistige Elite der Nachkriegszeit verkannte mehrheitlich die Bedeutung des
Begriffes für die Bevölkerung. Die wenigen Versuche, den Begriff neu und nach
vorne gewandt zu interpretieren, zeigen, dass „Heimat“ eben nicht zwingend im
schwarz-braunen Milieu verortet sein muss.

Heimat als sozialutopische und aufklärerische Dimension

Heimat ist nichts, was man hat, sondern was sich anstreben und entwickeln lässt:
„Heimat ist das zukünftig Mögliche“[2]. Mit seinem sozialutopischen
Heimatbegriff formulierte Ernst Bloch eine prozessuale Utopie vom „Umbau der
Welt in Heimat“: „… Hat er (der Mensch) sich erfasst und das Seine ohne
Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der
Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war:
Heimat“.[3]

Diagnose der Entheimatung:

In den letzten Jahrzehnten sind die Lebenswelten und
Lebenswirklichkeitenkomplexer und unübersichtlicher geworden. Die zunehmenden
Verunsicherungen, Ängste und Unzufriedenheiten werden zumeist mit Hinweisen auf
unausweichliche und fortschreitende Globalisierung und Technologisierung
beantwortet. Mit der neoliberalen Ökonomisierung von immer mehr Lebensbereichen
sind auch Entsolidarisierung und der Verlust an Gemeinwohldenken in Politik,
Wirtschaft und großen Teilen der Gesellschaft einhergegangen. Wohnraum ist zum
Spielball des Kapitals geworden, gleiche Chancen auf Bildung sind nicht
gewährleistet und die Angst vor Altersarmut macht die Runde. Ungerechtigkeiten
und Ängste lassen die Sehnsucht nach Heimat wachsen.

Wege zu einer Grünen Heimat

Die BAG Planen-Bauen-Wohnen der GRÜNEN, hat sich nach intensiver
Diskussionentschieden, den Heimatbegriff und die Definition von Heimat nicht
einer neuen Rechten zu überlassen, die den Begriff nationalistisch verbrämt und
ihn gegen unsere Gesellschaftsordnung, gegen Migranten und alles Fremde
einsetzt. Im Bewusstsein um den enormen Rückhalt, den der Begriff in der
Bevölkerung genießt und der thematischen Affinität zur grünen Themenlandschaft
soll der Heimatbegriff als Türöffner sensibel, aber zielgerichtet für die
Kommunikation grüner Ziele genutzt werden.

Planet Heimat

„Bewahrung der Schöpfung“ zielt auf nichts anderes ab als die Erhaltung des
Planeten Erde als Heimat aller Menschen. Die Verletzlichkeit des Planeten im
Klimawandel, die Verseuchung der Weltmeere und viele andere umweltrelevante
Entwicklungen weisen immer auch auf die regionale Heimat zurück und fordern das
bewusste Tätigwerden vor Ort. Mit „Think global-act local“ zeigen wir GRÜNE uns
selbst einen Weg auf, den Heimatbegriff vorwärtsgewandt zu besetzen.

Heimat in Europa

Bislang gelingt es nicht, ein Europa umspannendes, Nationalismen überwindendes
Heimatgefühl zu erzeugen. Voraussetzung wäre, dass Europa dafür eine Erzählung,
ein Narrativ entwickelt, das Werte wie Kohäsion, regionale Vielfalt, Toleranz,
Solidarität, Subsidiarität und Mitgestaltungsmöglichkeit in den Mittelpunkt
stellt, kommuniziert und Regeln für deren Durchsetzung verabredet. Beheimatung
in einem gerechten und solidarischen Europa ist eine zentrale Herausforderung
für GRÜNE Politik – insbesondere mit Blick auf den Europawahlkampf.

Enteignung von Heimat bekämpfen

Heimatgefühl entsteht oftmals erst, wenn die Heimat schwindet und Vertrautes
sich auflöst.„Heimat wird uns nicht durch Einwanderer genommen, sondern oftmals
durch die Zerstörung von wirtschaftlicher teilhabe und Umweltzerstörung z.B.
durch Tagebau, Bagger“[4]. Beschleunigungsgesetze, Verfahrensrestriktionen und
vorrangig sektorale technische Lösungen sorgen immer wieder dafür, dass das
Vertrauen der Bürger in faire Verfahren und eine gerechte Abwägung der
Interessen bei großen Infrastrukturvorhaben schwindet. Trotz zahlreicher
Sonntagsreden der Politik werden die ökologischen Bedenken von Bürgern und
Umweltverbänden, die Argumente von Naturschutz und Artenschutz letztlich nicht
ernst genug genommen und es wird nicht integriert und flächen- bzw.
ressourcenschonend geplant. Heimat muss aber nicht nur vielerorts im ländlichen
Raum „verteidigt“ werden, sondern auch in den Städten. Der Kampf gehört zur
Stadtentwicklung seit den Frankfurter Häuserkämpfen.

· Integration und Beheimatung

Migration und Mobilität konstituieren Stadtgesellschaft. Integrationsförderung
heißt immer auch: Heimat für Fremde ermöglichen. “Wichtig ist dabei, das
Heimatgefühl als Wunsch nach Zugehörigkeit nicht zu verachten, sondern
wertzuschätzen, und zwar bei allen, den Dazugekommenen wie bei den schon
Dagewesenen“[5].

Heimat durch Teilhabe und Einflussnahme

Beteiligungskultur in Städten und Landkreisen trägt zur Identifizierung und
Beheimatung der Bürger bei Heimat entsteht dort, wo durch Einflussnahme und
Gestaltungsmöglichkeiten ein Mehrwert für alle entsteht. Es braucht zivile
Kultur, um soziale Beziehungen, Gemeinschaft, lokale und regionale Identität und
Vertrauen zwischen politischen und gesellschaftlichen Akteuren wachsen zu
lassen.

Handlungsempfehlung

Ein grüner Heimatbegriff soll, im Gegensatz zu den folkloristischen
Illustrationen und der nationalistischen Ausdeutungen der Konservativen und der
neuen Rechten, nachvollziehbar aufbauen auf unseren Werten. Diese stehen den
Wurzeln der beschriebenen Entheimatung entgegen, genauso wie wir Beheimatung
ermöglichen wollen für all die, die dazukommen. Es liegt auf der Hand, dass
gerade in den Bereichen

  • Klima, Umwelt- und Agrarpolitik
  • Stadtentwicklungs- und Wohnraumpolitik
  • Chancengleichheit und wirtschaftliche Teilhabe
  • Beteiligungskultur
  • Integration
  • Europa
  • Offene Gesellschaft

durch Grünes Handeln Heimat gesichert oder vorwärtsgerichtet geschaffen werden
kann. Insbesondere im Grundsatzprogramm soll die inhaltlich schlüssige
Konnotation zum Heimatbegriff genutzt und sensibel betont werden. Wir
kapitulieren nicht vor der neuerlichen Enteignung des Begriffes, sondern belegen
ihn mit unseren Werten, die auf Bewahrung und Sicherung, aber auch Entwicklung
unserer sozialen, ökonomischen und ökologischen Umwelt führen und somit geeignet
sind Heimat zu heißen.

Carola Scholz, Gerhard Zickenheiner

[1]Forsa-Umfrage vom 7. bis 9. März 2018 im Auftrag der Mediengruppe RTL. (1005
Befragte)

[2]Lolita Tag, Über die Konstruktion von Heimat in der Fremde, München 2016 S.
10-11

[3]Ernst Bloch, Das Prinzip Hoffnung, 1954, S. 1628

[4]Miriam Erbacher, BAG PBW, Umfrage zur BAG-Sitzung in Stralsund 6.-8.7.18

[5]Eva Leipprand, Kulturpoitische Mitteilungen Nr. 159/ 2017